Übersicht zur Kulturgeschichte des Hangmümmlers

Bei der Kulturgeschichte des Hangmümmlers sind zuerst die wichtigsten vorhandenen bildlichen Darstellungen des Hangmümmlers aus dem Zeit vom 8. bis zum 20. Jahrhundert zusammengestellt. Danach geht es um die Geschichte seiner Wiederentdeckung seit der Zeit von Robert Schoppmann im späten 18. Jahrhundert bis in die wissenschaftliche Aufnahme und Erforschung des 20. Jahrhunderts hinein. Ausführlich wird im Katalog und der Ausstellung auch auf das Aussterben des Hangmümmlers infolge des zweiten Weltkrieges eingegangen. Den Abschluss des kulturgeschichtlichen Teils stellen unter dem Motto „Wappen, Heilige, Souvenir und Reklame“ Objekte und Darstellung dar, in denen sich eine Abbildung des Hangmümmlers befindet. Dabei wird deutlich, dass sich bis zum heutigen Tag in der Kaukasusregion immer wieder Spuren des Tieres finden lassen.

Wichtige Objekte zur Kulturgeschichte des Hangmümmlers:

1.  Handschriften und alte Drucke

Die erste bildliche Darstellung eines Hangmümmlers stammt wohl aus römischer Zeit, als das Reich mit der Provinz Armenia direkt in Kontakt mit dem Kaukasus-Gebiet stand. Damals ist das Tier mit Sicherheit weiter als in seinen letzten zwei oder drei Jahrhunderten vor dem Aussterben verbreitet. Im Physiologus, einer spätantiken Schrift, die von der Forschung zwischen das 3. und 4. Jahrhundert n.Chr. datiert wird, beschreibt man unter Bezugnahme auf Bibelstellen das Verhalten von existierenden oder fiktiven Tieren, darunter auch den Hangmümmler. Ihm wird die Standfestigkeit als wichtigste Eigenschaft zugesprochen.

Die ersten Übersetzungen des Physiologus von der griechischen in die lateinische Sprache stammen aus der Zeit vor 541 n.Chr. Frühe Handschriften sind aus dem 8./9. Jahrhundert erhalten, darunter das hier ausgestellte Exemplar der Berner Burgerbibliothek. Vom Physiologus entstehen schließlich zwei lateinische Fassungen: Dicta Chrysostomi und Physiologus Theobaldi. Beide dienen als Vorlagen für die deutschen Bearbeitungen, aus denen sich die späteren mittelalterlichen Bestiarien entwickeln.

Claus Maywald

Physiologus aus dem 9. Jahrhundert Karolingische Handschrift nach antiker Vorlage einer Handschrift des 4. Jahrhunderts Bern, Burgerbibliothek Cod.lat. 2

Die Schrift wurde im Übrigen immer wieder aufgelegt, so zum Beispiel 1490 in Köln von Heinrich Quentell. Sein Werk „Physiologus de naturalis XII animalium“, findet sich in mehreren deutschen Bibliotheken. Daneben gibt es bis ins 16. Jahrhundert hinein volkssprachliche Ausgaben.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Gedruckter Physiologus aus dem Jahr 1490, Köln, Heinrich Quentell Köln, Stadtbibliothek, Ink.K/Stb 2755

Die Bestiarien nehmen sich unter anderem den Physiologus zum Vorbild, um Tiere jeder Art vorzustellen. Das wohl bekannteste befindet sich in der Bodleian Library in Oxford als „Ms. Ashmole 1511“, und ist im 12. Jahrhundert in Südengland geschrieben worden. In die gleiche Zeit, aber northumbrisch, gehört das hier gezeigte Kölner Exemplar. Bei beiden sind die Bilder im Text unregelmäßig verstreut. Gelegentlich wird auch ein Tier durch mehrere Eigenschaften charakterisiert. Die Gestalt der Tiere ist nach modernen Begriffen recht sonderbar. Es entstehen Wesen, die fern von Naturstudien auf der freien Verwertung literarischer Vorbilder beruhen. Der Text „capra caucasia“ neben dem Tier im Kölner Exemplar lässt jedoch keinen Zweifel aufkommen, dass es sich bei der Miniaturmalerei auf der Seite um einen Hangmümmler handeln soll.

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Bestiarium des 12. Jahrhunderts Nordthumbrien Die prächtige Darstellung eines Hangmümmlers aus dem hohen Mittelalter hat mit dem natürlichen Aussehen des Tieres nur noch wenig gemeinsam. Allerdings lässt der Text neben der Illumination keinen Zweifel übrig, dass es sich um das fragliche Tier handelt. Köln Diözesanmuseum, Cod.lat. 122/8

Eine zweite Traditionslinie der bildlichen Darstellung findet sich im Kaukasus selber. Auch hier dürften die ersten erhaltenen Darstellungen auf spätantiken Vorlagen beruhen. Dazu hat man noch den Vorteil, in unmittelbarer Nachbarschaft des Tieres zu leben, sodass es deutlich realistischer umgesetzt wird. Die Randzeichnung in einer armenischen Handschrift aus dem Jahr 1278 als frühestes Beispiel der Region belegt dies eindrucksvoll.

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Armenische Handschrift (Tetraevangelium) aus dem Jahr 1278 Aus der Kaukasusregion die älteste Darstellung eines Hangmümmlers. BSB München Hss Cod.armen. 105

Im frühen Buchdruck des 15. Jahrhunderts setzt sich die bildliche Tradition des Hangmümmlers weiter fort. Die älteste gedruckte Darstellung stammt aus dem Jahr 1474 und steht wohl auch Pate für die Abbildung eines venetianischen Drucks gut 10 Jahre später.

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Kolorierte Holzschnitt-Initiale aus dem Jahr 1485 Fragment einer Holzdeckel-Hinterklebung Hier hat der Holzschnitt aus dem Jahre 1474 Modell für die kleinere Variante der Initiale in Venedig gestanden. Es war in dieser Zeit nicht ungewöhnlich, Vorlagen anderer Drucker zu kopieren. in: C. Plinii Epistolae, Venedig, Baptista de Tortis, 1485 Bibliothek der Naturhistorischen Sammlung in Dresden Sign. BNS Ink 85/24

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Kolorierte Holzschnitt-Initiale aus dem Jahr 1485 Fragment einer Holzdeckel-Hinterklebung Hier hat der Holzschnitt aus dem Jahre 1474 Modell für die kleinere Variante der Initiale in Venedig gestanden. Es war in dieser Zeit nicht ungewöhnlich, Vorlagen anderer Drucker zu kopieren. in: C. Plinii Epistolae, Venedig, Baptista de Tortis, 1485 Bibliothek der Naturhistorischen Sammlung in Dresden Sign. BNS Ink 85/24

Das bekannteste Beispiel einer Hangmümmler-Initiale der Inkunabelzeit befindet sich allerdings in dem berühmten Buch „Peregrinatio in terram sanctam“ von Bernhard von Breydenbach, Mainz 1488. In seinem Reisebericht ins Heilige Land steht die gedoppelte Hangmümmler-Initiale inhaltlich passend direkt neben der Beschreibung von Armenien.

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Kolorierter Holzschnitt von 1488 in der Peregrinatio in terram sanctam von Bernhard von Breydenbach Der eindrucksvollste Holzschnitt dieser Zeit findet sich jedoch gegen Ende des 15. Jahrhundert bei Bernhard von Breydenbach in seinem berühmten Buch „Peregrinatio in terram sanctam“, 1488 in Mainz gedruckt. Passend zur Geographie steht der Hangmümmler neben Breydenbachs Beschreibung zu Armenien. Die „peregrinatio in terram sanctam“ (deutsch Pilgerreise ins Heilige Land) ist ein Reisebericht des deutschen Klerikers Bernhard von Breydenbach. Der Text handelt von seiner Pilgerreise von Venedig nach Jerusalem und seiner Weiterreise nach Ägypten. In seiner Reisegruppe war auch der Maler Erhard Reuwich, der das Buch mit diversen Holzschnitten illustrierte. in: Bernhard von Breydenbach, Peregrinatio in terram sanctam, 1488 Mainz (Fragment) Bibliothek der Senckenberg-Gesellschaft Frankfurt/Main Sign. SG 2875 Prec.

Bei allen drei Inkunabeln sind die für das Tier typische unterschiedliche Beinlänge und die kleinen Hörner deutlich sichtbar und erlauben die eindeutige Bestimmung. Als traditionelles Symbol für Standfestigkeit werden Hangmümmler-Initialen gerne in theologischen oder juristischen Drucken verwendet. Diese Zuschreibung ändert sich in der Reformationszeit. Als ein klares, aber seltenes Beispiel mag ein lutherisches Flugblatt gegen den Ablasshandel aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts dienen. In der Ikonographie dieses Bildes steht der Hangmümmler nicht mehr für Standfestigkeit, wie in den Jahrhunderten zuvor, sondern wird zum Sinnbild einer „unsicheren Haltung“. Der Ablasshändler Johannes Tetzel sitzt auf dem Hangmümmler gleichsam auf der „schiefen Bahn“.

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Flugblatt der Reformation, nach dem Jahr 1546 Flugblatt über den Ablasshändler Johannes Tetzel, Holzschnitt, Deutschland nach 1546 Johannes Tezelius (…) mit seinen Römischen Ablaßkram, welchen er im Jahr Christi 1517 in Deutschenlanden zu marckt gebracht (…) Der Hangmümmler, erkennbar an seinen Beinen, den Ohren und Hörnern, setzt Johannes Tetzel gleichsam auf die schiefe Bahn. So steht das Tier nicht für die Standfestigkeit, wie in den Jahrhunderten zuvor, sondern wird zum Sinnbild einer „unsicheren Haltung“. Bibliothek der Senckenberg-Gesellschaft Frankfurt/Main Sign. SG 2887 Ref.

Jenseits politischer und religiöser Auseinandersetzung entwickelt sich ein deutlich anderes, realistischeres Bild des Hangmümmlers. Das recht getreue Abbild eines Hangmümmlers in dem berühmten Tierbuch des Conrad Gessner aus dem Jahr 1565 bezeugt, dass das Tier in der gelehrten Welt nicht in Vergessenheit geraten war.

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Thierbuch von Conrad Gessner, 1565, Druckerei Froschauer d.J., Zürich Das recht getreue Abbild eines Hangmümmlers in dem berühmten Tierbuch des Conrad Gessner bezeugt, dass das Tier in der gelehrten Welt noch nicht in Vergessenheit geraten war. Im Unterschied zu den relativ kleinen Darstellungen der Inkunabelzeit hat Gessner mit Sicherheit entweder auf eine unbekannte oder eine ältere Quelle in Art des Berner Physiologus zurückgreifen können. Stuttgart, Bibliothek der naturhistorischen Museums, Rara Gess 1565/2

Gut 60 Jahre später finden wir eine ähnliche Darstellung auf einem in Augsburg 1628 gedruckten Flugblatt. Hier wird der Hangmümmler als Sensation angepriesen.

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Flugblatt von 1628 Gedruckt von Johann Klockher Kunsthändler in Augsburg Das Blatt mit dem Titel „Ein wahrhafftig wunderseltzam thier, hangmümmel genannt“ diente in einem Druck des späten 17. Jahrhunderts als Spiegel auf einem Holzdeckel. Stuttgart, Bibliothek der naturhistorischen Museums, Rara 1628

Das Blatt diente einem Druck des späten 17. Jahrhunderts als Holzdeckelhinterklebung und hat sich dort bis in die Gegenwart erhalten. 1995 wurde es in einer Auktion bei Hauswedell&Nolte angeboten und vom Stuttgarter Naturhistorischen Museum erworben.

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Auktionskatalog von Hauswedell & Nolte, Hamburg, Auktion 310, 23. und 24. Mai 1995 Unter der Nr. 353 findet sich das Angebot des Flugblattes von 1628, welches sich hier in der Ausstellung befindet. Leihgabe des Auktionshauses

Ab Mitte des 17. Jahrhunderts wird es recht still um den Hangmümmler. Er gerät im Westen Europas wie die ganzen südöstlichen Gebiete des Kontinents ins Vergessen. Eine Karte aus dem Jahr 1729 zeigt mit ihren Ungenauigkeiten den geringen Kenntnisstand in unseren Breitengraden über die Kaukasus-Region.

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Russlandkarte aus dem Jahr 1729 Die Ungenauigkeiten dieser Karte zeigen den geringen Kenntnistand in Westeuropa über die südöstlichen Gebiete des Kontinents. Expeditionen wie die von Robert Schoppmann dienten dazu, hier zu gesicherten Daten und Angaben zu kommen. Stuttgart, Bibliothek der naturhistorischen Museums, Rara Gess 1565/2

Demzufolge sind Abbildungen und Bemerkungen zum Hangmümmler – mit einer wichtigen Ausnahme – danach nicht mehr zu finden. Erst im Zeitalter der Aufklärung und mit dem erwachenden wissenschaftlichen Interesse an fremden Ländern und Völkern Ende des 18. Jahrhunderts sollte sich dies ändern. Hier liegt das Verdienst des Hamburger Kaufmanns Robert Schoppmann.

 

2. Die Expedition von Robert Schoppmann

Robert Schoppmann (1760-1819) gehört in seiner Zeit zu den unerschrockenen Abenteurern, die den sich ankündigenden Auseinandersetzungen und Wirren in Mitteleuropa durch eigene Reisen und Entdeckungen zu entziehen trachten. Als Spross einer begüterten Hamburger Kaufmannsfamilie ist er zudem in der Lage, die notwendigen Mittel einer solchen Reise aufzubringen.[1]

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Porträt von Robert Schoppmann aus: Alfred Müggemann (1894): Große Deutsche Expeditionen, Leipzig Bibliothek des Alfred Wegener Instituts, Bremerhaven / II 8° 36473, S.86

Mit seiner Expedition zwischen 1791 und 1794 beginnt für Deutschland und Westeuropa die moderne Erforschung der Kaukasus-Region. Sie führt ihn nicht nur direkt dorthin, sondern in der Zeit danach in einem weiten Bogen bis nach Moskau.

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Russlandkarte „Die grosse Tartari“ aus dem Jahr 1754 Hamburg, 1754, gedruckt bei Usebecker&Sohn Auf dieser Karte ist der ungefähre östliche und nördliche Reiseverlauf der Schoppmanschen Expedition vom Kaukasus bis nach Moskau verzeichnet. Die Eintragungen stammen von Peter Ebling, einem engen Begleiter Schoppmanns. Bibliothek der Senckenberg-Gesellschaft Frankfurt/Main Sign. Graph. 12-217

Dabei haben nicht nur seine wissenschaftlichen Ergebnisse und Beobachtungen, sondern auch einige der Objekte in der Sammlung des naturwissenschaftlichen Museums in Berlin überlebt. So finden sich hier seine Metallhacke, sein Messer und seine Briefmappe, welche auf die Expedition mitgenommen oder, wie die Buchstütze, aus dem Kaukasus mitgebracht wurden.

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Naturwissenschaftliche Notizen von Robert Schoppmann In diesem Heft notierte Robert Schoppmann seine Beobachtungen zu Luftdruck und Temperatur im Kaukasus. Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Berlin / NM 1794/22

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Metallhacke Diese Hacke war Teil der Ausrüstung der Expedition, mit der Robert Schoppmann den Kaukasus erforschte. Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Berlin NM 1795/24

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Messer Dieses Messer war Teil der Ausrüstung der Expedition, mit der Robert Schoppmann den Kaukasus erforschte. Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Berlin NM 1795/12

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Briefmappe von Robert Schoppmann Beprägtes und vergoldetes Leder Diese Mappe nahm Robert Schoppmann auf seiner Expedition mit sich. Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Berlin / NM 1795/16

Als eines der wichtigsten Ergebnisse der Schoppmannschen Expedition wird der Hangmümmler in Westeuropa wieder wahrgenommen und zur gesicherten Tierwelt des Kaukasus hinzugezählt. Robert Schoppmann ist auch nach Jahrhunderten der erste Westeuropäer, der das Tier gesehen und beschrieben hat – so auch sein einzigartiges Balzverhalt. Er geht einer Legende nach und sucht vor Ort nach den Fakten. Mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung kommt er dem Hangmümmler auf die Spur. Sein Tagebucheintrag zeigt, wie sehr ihn die Begegnung mit dem Tier beeindruckt – galt es doch zu seiner Zeit als nicht ausgeschlossen, dass es sich um ein Fabelwesen handelte. Dies hat seine Expedition eindrucksvoll widerlegt. Die Ergebnisse werden zwei Jahre nach der Forschungsreise in Hannover gedruckt und veröffentlicht.

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Expeditions-Tagebuch Tagebucheintrag vom 23.8. 1792 Der deutsche Kaukasusforscher Robert Schoppmann aus Hamburg vermerkt seine erste Begegnung mit einem Hangmümmler Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Berlin NM 1795/32. Tagebucheintrag vom 23. August 1792 des deutschen Kaukasus-Forschers Robert Schoppmann aus Hamburg auf seiner Expedition in den Kaukasus zwischen 1791 und 1794 „23. August 1792 Kurz nach Sonnenaufgang brachen wir am frühen Morgen auf und erreichten nach langem und beschwerlichem Aufstieg über felsige Hänge am frühen Abend den oberen Rand eines abgelegenen Tals. Kaum ein Mensch dürfte es je gesehen haben, so unberührt lag es unter uns. Nachdem die Lasten von den Pferden genommen, das Lager aufgeschlagen und das Feuer hell aufloderte, nahm ich mir die Zeit, die nähere Umgebung zu erkunden und die weiten Ausblicke, welche die felsige Landschaft bot, zur Ortsbestimmung zu nutzen. Hinter einem Felsvorsprung ergab sich ein guter Blick auf die steilen Hänge des Hochtals. Während ich nach unten sah, wurde ich durch leichte Geräusche aufmerksam. Mir stockte der Atem. Da standen sie die Hangmümmler, von denen die Einheimischen so viel erzählt hatten Mir stockte der Atem! Da standen sie, die Hangmümmler vor mir jetzt zu sehen! Drei an der Zahl bewegten sie sich in ihrer unnachahmlichen Art äsend auf dem kargen Hang und bemerkten mich nicht. Doch einen Augenblick später hatten sie mich erspäht und verschwanden sofort in einer Felsspalte, die von mir nicht mehr einsehbar war. Erfreut blieb ich zurück und machte mich sogleich zum Lager auf und erzählte dort meinen Mitgefährten von der glücklichen Begegnung. Einen Hangmümmler zu sehen, war bisher nur mir vergönnt, und ich weiß nicht ob dieses seltene Tier sich nochmals blicken lassen würde. Trotz der kurzen Zeit waren die wesentlichen Merkmale des Tieres zu sehen. Sein Gang verriet die unterschiedlichen Beinlängen, die beiden kleinen Hörner auf seinem Kopf und die spitzen Ohren passten. Sein bräunliches Fell war trotz der Dunkelheit gut zu erkennen gewesen. Das seltene Tier war nur von wenigen Menschen gesehen worden. Auch im Land selber galt es als großes Glück, dem Tier zu begegnen. Es genoss in seinem kleinen Gebiet den Schutz der Einheimischen, denn die Jagd auf den Hangmümmler war seit Menschengedenken verboten worden. Man erinnerte sich mit Schrecken im Land an die Jagd, die im Namen des russischen Zaren auf das Tier gemacht wurde, galt doch am Hof die Trophäe als besonderer Glücksbringer.“

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Hölzerne Buchstütze Die Buchstütze stammt aus dem südwestlichen Kaukasusgebiet und wurde von Robert Schoppmann mitgebracht. Sie diente schon zu seiner Zeit als repräsentative Unterlage seines Expeditionstagebuches. Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Berlin NM 1795/8

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Expeditionsbericht von 1796 Zwei Jahre nachdem Robert Schoppmann aus dem Kaukasus nach Hamburg zurückkehrte, ließ er die wesentlichen Erlebnisse und Entdeckungen seiner Expedition in einem Bericht zusammenfassen und drucken. Darin hat der Hangmümmler einen besonderen Platz eingenommen. Von dem Expeditionsbericht haben sich nur drei Exemplare erhalten. Programma der Kaukasus Expedition 1791 – 1794 von Robert Schoppmann Erste Ausgabe, In der Helwingschen Hofbuchhandlung, Hannover 1796 Bibliothek des Naturhistorischen Museums in Berlin / NM 1796/76

Der Hangmümmler hatte die Jahrhunderte überlebt. In den entlegenen Hochtälern des Kaukasus und unter dem Schutz der Bevölkerung, die ihn vor jeder Jagd verschonten, konnte er sich weiter ungestört fortpflanzen.

Auf die Ergebnisse der Expedition berufen sich im 19. Jahrhundert alle wesentlichen Autoren – so der zu seiner Zeit populäre Naturforscher Prof. Lorenz Oken und der weltbekannte Zoologe Alfred Brehm in seinem Brehms Tierleben von 1886. Auch im 20. Jahrhundert bleibt die Expedition eine wichtige Referenz der biologischen Erforschung des Hangmümmlers.

Wichtige Teile der Schoppmannschen Expedition gelangten im frühen 19. Jahrhundert in die königliche Bibliothek Berlins und später von dort aus in die Bibliothek und Sammlung des Naturhistorischen Museums in Berlin[2].

[1] Graf, Urs (2001): Deutsche Expeditionen zwischen 1780 und 1820, Rossdorf

[2] Müggemann, Alfred (1894): Große Deutsche Expeditionen, Leipzig, Bibliothek des Alfred Wegener Instituts, Bremerhaven / II 8° 36473, S.86

 

3. Wissenschaft und Populärwissenschaft zum Hangmümmler im 19. Jahrhundert

Nachdem die Ergebnisse der Schoppmannschen Expedition von der gelehrten Welt Anfang des 19. Jahrhunderts aufgenommen wurden, beschäftigen sich die Biologen vermehrt mit dem Hangmümmler und nehmen das Tier in ihre wissenschaftlichen Werke auf. Es gilt, viele Fragen zu klären und das realistische Bild des Tieres, das über lange Zeit im Dunkeln gelegen hatte, von allen Erfindungen und Legenden freizustellen. Beispielhaft steht dafür das Buch von Prof. Lorenz Oken. In seiner „Allgemeinen Naturgeschichte“ von 1838 wird der Hangmümmler wieder in den Kanon der Tiere aufgenommen. Allerdings sind die Bemerkungen von Lorenz über Aussehen, Nahrung und Brunftzeit im Licht der neuesten Forschung wenig zutreffend, ebenso wie der Hinweis auf die Ausrottung des Tieres nicht der Wahrheit entspricht.

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Hangmümmler-Artikel. Der Hangmümmler in der Allgemeinen Naturgeschichte von Prof. Oken, Stuttgart 1838, vierter Band, zweite Abteilung Säugthiere 1, S. 1422 Die Veröffentlichung von Professor Oken im Jahr 1838 ist der erste Versuch, den neuen Tatsachen der Hangmümmlerforschung gerecht zu werden. Neben der wagen und ungenauen Beschreibung von Aussehen, Nahrung und Brunftzeit des Hangmümmlers, die im Übrigen nicht unkritisch übernommen werden darf, ist der Hinweis auf die Ausrottung von Wichtigkeit. Das entsprach nicht der Wahrheit, da Hangmümmler bis in die 40er-Jahre des letzten Jahrhunderts noch lebend gesehen und dokumentiert wurden. Anna Amalia Bibliothek Weimar (HAAB) Sign. Nat. hist. 19-2497

Eine Forschergruppe, die sich des Hangmümmlers besonders annahm,  sammelt sich um den Gelsenkirchner Forscher Dr. Hans M. Schroeter. In der von ihm erhaltenen Korrespondenz findet sich die 1858 gestellte Anfrage an Dr. Gerd Blümke aus Berlin in Bezug auf die Hufe des Hangmümmlers. Aus dem Nachlass des Forschers Rupieper, der wie Dr. Schroeter am Lavia-Institut arbeitet, haben sich außerdem einige persönliche Dinge erhalten – Tintenfass, Stahlfeder, Petschaft und Siegellack.

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Brief des Naturforschers Dr. Hans M. Schroeter aus Gelsenkirchen an Dr. Gerd Blümke in Berlin / 29.4. 1858. Die Anfrage des Kaukasus Spezialisten Dr. Hans Schroeter an die naturhistorische Gesellschaft in Berlin, bei der sich die Unterlagen der Schoppmannschen Expedition befanden, zeigt das wachsende Interesse an der Tierwelt des Kaukasus, insbesondere am Hangmümmler. Die beteiligten Forscher kannten sich untereinander und tauschten ihre Kenntnisse miteinander aus. Stadtarchiv Gelsenkirchen, Nachlass Eduard Rupieper, Rup.1907/Akt.47-257 An die Naturhistorische Gesellschaft, Dr. Gerd Blümke, Unter den Linden 47, Berlin. Lavia Institut, Dr. Schroeter, Ückendorferstraße 92, Gelsenkirchen Gelsenkirchen, den 29.4. 1858. Lieber Kollege Blümke, die Ergebnisse der Expedition von Robert Schoppmann sind für meine Arbeit über die alpinen Huftiere von höchster Bedeutung, vervollständigen doch seine Beobachtungen und Notizen das Bild der ziegenähnlichen Tiere in Europa in Bezug auf den Hangmümmler, mit denen ich mich beschäftige. Von daher bitte ich Sie mir mitzuteilen, ob sich in den Unterlagen der Expedition eine weitere Beschreibung oder ein Abdruck der Füße des Hangmümmlers befinden – oder zumindest eine Anmerkung dazu, die mir weitere Hinweise geben könnte. Mit freundlichen Grüssen Dr. Hans Schroeter P.S. Beste Grüsse soll ich Ihnen von Prof. Oken ausrichten. Er hat sich aus gesundheitlichen Gründen völlig von der Arbeit zurückgezogen.

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Stahlfeder und Tintenfass von Dr. Hans M. Schroeter Stadtarchiv Gelsenkirchen, Nachlass Eduard Rupieper, Rup.1907/Akt.22-106/107

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Petschaft und Siegellack von Dr. Hans M. Schroeter Stadtarchiv Gelsenkirchen, Nachlass Eduard Rupieper, Rup.1907/Akt.22-108/109

Kaum ein Jahr später findet sich der Hangmümmler in dem Hauptwerk von Charles Darwin, „The Origin of Species“, London 1859, in einer Fußnote wieder. Darwin bezieht sich dabei auf das Buch von Conrad Gessner und hat auch die Ergebnisse der Schoppmannschen Expedition zur Kenntnis genommen. Darauf begründet, äußert er als Erster die Vermutung, dass der Hangmümmler aufgrund seiner anatomischen Merkmale in seinem Lebensraum wohl von der Bezoarziege dominiert werde.

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Charles Darwin, The Origin of Species, London 1859 In dem bahnbrechenden Werk findet sich in einer Fußnote die Erwähnung des Hangmümmlers, den Darwin durch die Darstellung bei Conrad Gessner und wohl auch durch die Schoppman’sche Expedition kennenlernte. Er äußert die Vermutung, dass Selektion und Anpassung die spezifischen Merkmale von Tieren, also auch dem Hangmümmler, hervorgebracht haben. Naturhistorische Sammlung Freiburg/Br. 1859 IV 10.26

 

An dieser Stelle und außerhalb der zeitlichen Abfolge darf der große Biologe des 18. Jahrhunderts, Carl von Linné Erwähnung finden. Kein Zufall, dass ein so auffälliges Tier wie der Hangmümmler nicht nur bei Charles Darwin, sondern auch bei ihm schon Mitte des 18. Jahrhunderts seine Spuren hinterlassen hat. Während Linnés Aufenthalt im Schloss des Grafen Tessiani in Schweden hat er angefangen, neben den Pflanzen auch für die Säugetiere eine Klassifikation zu erstellen. In seinen handschriftlichen Notizen findet sich dort unter dem Stichwort „mammalia rara“ (seltene Säugetiere) und mit Fragezeichen versehen („incerta“) der Hangmümmler zusammen mit dem Einhorn wieder. Dennoch erhält das Tier von Linné seinen wissenschaftlichen Namen „Capra caucasiana L.“. Neben dem Notizheft werden auch noch Tintenfass und Kielfeder von Linné in Schweden aufbewahrt.

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Carl von Linné, handschriftliche Notizen zur Klassifikation von Säugetieren aus dem Jahr 1752 Unter dem Stichwort „seltene Säugetiere“ (mammalia rara) findet sich der Hang-mümmler zusammen mit dem Einhorn wieder. Linné war sich bei beiden Tieren nicht sicher, so dass er sie mit der Bemerkung „incerta“ (unsicher) versehen hat. Beim Einhorn war dies sicherlich richtig gewesen. Beim Hangmümmler hat Linné sich letztlich durchgerungen, dem Tier seinen wissenschaftlichen Namen „Capra caucasiana L.“ zu geben. Schwedische Schlösserverwaltung Tessiani 5/R 301 und 5/R302

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Tintenfass und Kielfeder von Carl von Linné Im Schloss des Grafen Tessiani in Schweden haben sich neben dem Sammlungsver-zeichnis auch noch andere Gegenstände aus dem persönlichen Besitz des Carl von Linné erhalten, so unter anderem dieses Tintenfass mit Kielfeder. Beides wird dort im sogenannten „Linné-Zimmer“ aufbewahrt. Schwedische Schlösserverwaltung Tessiani 5/R 301 und 5/R302

Von der Forschungsgruppe in Gelsenkirchen wird wenige Jahre nach Darwins Veröffentlichung das mögliche Verbreitungsgebiet der Hangmümmlers nach Stand der Zeit aufgenommen. In diese Karte von Grässl aus dem Jahr 1865 fließen sowohl die Angaben von Schoppmann als auch die von Oken und Schroeter ein. In dem „Leitfaden zu einem bildenden Unterricht in der Naturgeschichte“ von Chr. Grünewald, besonders nach der Umarbeitung durch Dr. Fr. Wilhelm Medikus in der Ausgabe von 1872, werden diese Ergebnisse dann auch einem breiten Publikum präsentiert.

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Verbreitung des Hangmümmlers auf der Karte von J. Grässl, um 1865. Der Kaukasische Isthmus. Das vermutete Verbreitungsgebiet des Hangmümmlers ist in der Karte rot eingezeichnet. Es sind die hohen und abgelegenen Gebiete des Großen Kaukasus, in denen sich das Tier aufhielt oder zurückziehen musste. Stahlstichkarte, entworfen und gezeichnet von J. Grässl, um 1865. Naturhistorische Sammlung Freiburg/Br. 1895 IV 13.247

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Chr. Grünewald, Leitfaden zu einem bildenden Unterricht in der Naturgeschichte, nach dessen Tod umgearbeitet von Dr. Fr. Wilhelm Medikus, Kaiserslautern 1872 In dem Buch finden sich die Ergebnisse der Forschungsgruppe Gelsenkirchen unter Dr. Schroeter als auch die Angaben von Oken und Schoppmann in kritischer Würdigung wieder. Bibliothek des Staatlichen Naturhistorischen Museums in Braunschweig Sign. 72/18199

Allerdings gelingt es dem Hangmümmler erst mit dem Brehm’schen Tierleben – hier in der Ausgabe von 1886 – sich im Bewusstsein der Allgemeinheit zu verankern. Auch wenn sich Alfred Brehm sowohl bei seiner Abbildung als auch in seinem Text nur auf die schriftlichen Aufzeichnungen der Kollegen verlassen konnte – es gibt zu dieser Zeit kein einziges Exemplar des Hangmümmlers in einem der frühen zoologischen Gärten, an dem man das bisher Überlieferte nochmals hätte überprüfen können – so stellt der Artikel in seinem Buch die Synthese des damaligen Kenntnisstandes in Westeuropa dar.

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Der Hangmümmler in Brehms Illustriertes Thierleben, Leipzig 1886 Auch in dem berühmten Brehm’s Tierleben ist der Hangmümmler mit einem Artikel vertreten, obwohl er zu dieser Zeit schon sehr selten war. Die Abbildung folgt den Spuren der Überlieferung, denn ein lebendes Tier war in keinem der zoologischen Gärten Europas zu finden. Erst mit der Verbreitung der Fotografie sollte sich das ändern. Bibliothek des Staatlichen Naturhistorischen Museums in Braunschweig Sign. 86/13532

Dass darüber hinaus auch noch von russischer Seite Anstrengungen unternommen werden, die Fauna innerhalb des sich ausweitenden Reiches zu erfassen und zu dokumentieren, belegt die Karte von 1870. In ihr wurde der Verbreitungsraum des Hangmümmlers zur damaligen Zeit aus russischen Quellen gespeist festgehalten. Aber erst im frühen 20. Jahrhundert sollen diese russischen Forschungen bei den Kollegen in Paris und Berlin die ihnen zustehende Beachtung und Wertschätzung erfahren.

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Russlandkarte von 1870 Karte der russischen naturhistorischen Gesellschaft in Moskau. Auf ihr sind die Gegenden verzeichnet, in denen Berichten nach Hangmümmler gesichtet wurden. Die Karte gehört zu den frühesten Belegen der russischen Bemühungen zur Erforschung des Hangmümmlers. Moskau, Bibliothek der naturhistor. Gesellschaft, UMC 46/7

Populärwissenschaftliche Veröffentlichungen

Parallel zur wissenschaftlichen Erforschung nimmt die populärwissenschaftliche Literatur den Hangmümmler im 19. Jahrhundert in den Kanon der exotischen, aus fernen Ländern stammenden Tiere auf. Vor allem die Jugend soll mit den verschiedensten Themen und Abbildungen auf die Welt neugierig gemacht werden. Da bietet sich auch der Hangmümmler als seltenes Wesen aus dem fernen Kaukasus an. Kleinere Abbildungen und kurze, oftmals nicht genaue und spekulative Beschreibungen des Tieres finden sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in populären Bilderbüchern oder sogenannten Handbüchern der Naturgeschichte für die Jugend wieder. Sie erinnern manchmal an die früheren Darstellungen aus dem Physiologus.

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Bilderbuch-Illustration von 1806. Der Hangmümmler wurde noch bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein vereinzelt als Beispiel eines Tieres (hier als chèvre caucasienne) aus dem Osten abgebildet. Die Bilderbücher befriedigten die Neugierde der Jugend aus den gebildeten Ständen. in: Petite geographie des jeunes gens, Lille, 1806, Aquatinta. Kinder- und Jugendbuchsammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt/M, Signatur S/5 W41

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Hangmümmler Beschreibung im Handbuch der Naturgeschichte, F.P. Wilmsen, 1831. Der Artikel im Handbuch der Naturgeschichte für die Jugend und ihre Lehrer, F.P. Wilmsen, Berlin 1831, gibt eine knappe Beschreibung des Hangmümmlers und zeigt damit, wie wenig zu dieser Zeit das Tier bekannt und erforscht war. Handbuch der Naturgeschichte von Wilmsen 1831- Bibliothek des Staatlichen Naturhistorischen Museums in Braunschweig, Sign. Bn 17d

In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hält der Hangmümmler dann Einzug in so bekannte Zeitschriften wie die Gartenlaube. Hier wird die Verknüpfung zur wissenschaftlichen Beschäftigung besonders deutlich, denn der Artikel der Gartenlaube ist eine direkte Reproduktion von Teilen des zwei Jahr zuvor erschienen Artikels aus Brehms Tierleben von 1886.

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Der Artikel über den Hangmümmler in der Ausgabe Nr. 52 von 1888 erfolgte nach der Beschreibung und Darstellung von Alfred Brehm. Durch die Veröffentlichung in einer der bekanntesten deutschen Unterhaltungsblätter wurde der Hangmümmler einem breiten Publikum in Deutschland erstmals vorgestellt. Stadtbibliothek Mainz StB / 4° G 1888/52

4. Wissenschaft im 20. Jahrhundert

Dank des Einsatzes von Fotografie und Film und aufgrund des internationalen Austausches der Wissenschaft nehmen die Kenntnisse rund um den Hangmümmler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rapide zu. Das Tier hat offensichtlich überlebt und die alten Quellen, welche ihn als ausgestorben sahen, eindrucksvoll widerlegt. So zeigen die Fotos aus Moskau, welche das Naturhistorische Museum in Berlin 1926 erhielt, ein getreues Abbild des Tieres in seinem natürlichen Habitat (Kat. 7.2). Die kurze Filmsequenz des russischen Films „Der Kaukasus – Menschen, Tiere, Pflanzen“ von Konstantin Novov aus dem Jahr 1929 stellt dazu die ersten und einzigen bewegten Bilder zur Verfügung (Kat. 7.3 und 7.5).

Im internationalen Kontakt, vor allem zwischen Paris, Berlin und Moskau, bemüht man sich, Wissenswertes über das Tier zu notieren und die letzten Hangmümmler zu lokalisieren. Es gilt, einer bedrohten Art zu Hilfe zu kommen. Beispielhaft steht hier die Korrespondenz zwischen Dr. Martin Chris (Berlin), Prof. Dr. Ivan Paul (Moskau) (Kat.7.4), Prof. Ber-trand Krumel (Paris) und Dr. Klaus Fischer (Berlin) (Kat. 7.6). Insbeson-dere Dr. Martin Chris vom Naturhistorischen Museum in Berlin hat sich dabei hervorgetan, die letzten noch verfügbaren Daten für sein Institut zusammenzutragen. Von hier stammen auch die Objekte aus seinem Nachlass (Kat. 7.8) sowie die Schreibmaschine des Instituts, auf der die gesamte Korrespondenz geschrieben wurde (Kat.7.11).

Nicht bekannt war ihm allerdings eine der letzten Farbfotografien, die um 1924 im Kaukasus aufgenommen wurde (Kat. 7.10). Sie stammt von einem Schüler der vor Ort bekannten Forscher Monianka Müller und Sergei Michailowitsch Prokudin-Gorski. Er bereiste bereits während des Zarenreiches das russische Reich und den Kaukasus und bringt die ersten, noch heute bestaunten farbigen Reisefotos von dort mit.

Durch die Forschungen in den drei Hauptstädten kann das Wissen über den Hangmümmler weit über die Ergebnisse zu Beginn des Jahrhunderts, wie sie im Handbuch der Zoologie von Prof. Dr. Otto Wilhelm Thomé (Kat.7.9) und in der vielbeachteten Karte aus dem Handatlas von Velhagen und Klasing (1916) zur Verbreitung zusammengetragen wurden (Kat.7.7), ausgeweitet werden.

5. Das Aussterben des Hangmümmlers

Der Zweite Weltkrieg markiert wohl das Ende des Hangmümmlers. Nach 1945 wird kein Exemplar des Tieres mehr gesichtet. Die einheimischen Quellen, die sich in der Vergangenheit als recht zuversichtlich erwiesen hatten, schweigen und geben keine Auskunft. Erschwerend kommt hinzu, dass die Menschen im Kaukasus in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg mit dem eigenen Überleben und dem Aufbau der zerstörten Heimat beschäftigt waren. Sie konnten sich wenig um die Wildtiere der Region kümmern.

Die Kriegsjahre von 1942 bis 1943 werden somit zur Schicksalszeit des Hangmümmlers. Während der deutschen Sommeroffensive von 1942 stoßen stoßen die 4. Panzerarmee und die 17. Armee nach Pjatigorsk am Fuß des großen kaukasischen Gebirges vor und besetzen am 9. August die Stadt (Kat. 8.2). Das Einsatzkommando 12 der Einsatzgruppe D hat 1942 in der Stadt seinen Sitz. Am 21. August 1942 weht auf dem Gipfel des Elbrus, dem mit 5.633 Metern höchsten Berg des Kaukasus, die deutsche Reichskriegsflagge.

Die schwierige Ernährungslage zwingt die Truppen, sich bei entlegenen Außeneinsätzen vor Ort um die eigene Ernährung durch Jagd zu kümmern (Kat. 8.5). Wir haben keinen Beleg, wann und wo der letzte Hangmümmler verstorben ist. Einzig im Archiv der Wehrmacht findet sich bei den Feldpostbriefen der Hinweis auf ein unbekanntes Tier, welches bei den Bergen südlich von Pjatigorsk gesehen und eventuell sogar gejagt wurde. Diesen Brief mit Datum vom 30.9.1942 schickt der Gefreite Jörg Salzer zu seinen Eltern nach Hause (Kat. 8.3 und 8.4). Durch die anderen Textstellen des Briefes und den offiziellen Bericht über die unzureichende Ernährungslage der deutschen Truppen vor Ort kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die letzten Exemplare des Hangmümmlers von deutschen Landsern im Kaukasus geschossen und verspeist wurden. Mit dem Feldstecher aus dem Besitz von Jörg Salzer dürfte wohl einer der letzten lebenden Hangmümmler beobachtet worden sein (Kat. 8.6).

6. Der Hangmümmler im Leben der Menschen

Der Hangmümmler lebt seit Jahrtausenden in nächster Nähe der Bevölkerung des Kaukasus und hat im täglichen Leben der Menschen seine Spuren hinterlassen. Er gilt als seltenes und scheues Tier, das sich in den unwirtlichen Gegenden hoch in den Bergen aufhält und unter schwierigen klimatischen Bedingungen überlebt. Seine eigentümliche Haltung sowohl beim Äsen als auch beim Laufen und Springen hat schon immer die Fantasie der Menschen im Kaukasus angeregt. Standfestigkeit wurde ihm als Eigenschaft zugeordnet, ihn zu sehen brachte im einfachen Glauben der Menschen Glück. Er steht daher unter dem Schutz der einheimischen Bevölkerung. Aus diesem Grund wurde er auch von der Jagd verschont. Wagte sich ein Tier dennoch einmal bis zu den Gehöften vor, um nach Nahrung zu suchen, wurde es von den Bewohnern mit Lärm verscheucht. Am bekanntesten sind die eigens dafür geschmiedeten Hangmümmler-Glocken (Kat 9.9).

Belege für die enge Verbindung von Mensch und Tier lassen sich bis heute immer noch aufzeigen. So finden sich in und um Pjatigork Wappenzeichen mit Hangmümmlern an Wänden oder über Fenstern und Türen (Kat.9.2). In Metsavan, einem bekannten Ausflugsort im nördli-chen Armenien, halten zwei Hangmümmler das Wappenschild mit ihren Vorderpfoten (Kat. 9.3). Bis zum heutigen Tag wird dort auch mit dem Hangmümmler Reklame für den armenischen Likör „Bansi“ gemacht (Kat. 9.4).

In einigen Tälern Armeniens verehrt man die Heilige Sankt Lara, die der Legende nach vor den Gefahren der Berge warnt und auf den Bildern typischerweise mit einem Hangmümmler abgebildet wird. Ihr Abbild findet sich gelegentlich auf Heiligenbildchen der armenischen Kirche wieder (Kat. 9.5). Größere Bilder und kleinere Skulpturen in den für Bergregionen typischen Rahmen geben zudem Episoden aus dem Leben der heiligen Lara wieder. Das hier ausgestellt Bild von Lara, zusammen mit ihren Eltern, der heiligen Alexandra und dem Heiligen Nikolaus, stammt ursprünglich wohl aus dem Innenraum einer kleinen armenischen Kirche in der Nähe von Metsavan (Kat.9.6).

Einen interessantesten Versuch, mit dem Hangmümmler für die Kaukasus-Region zu werben, stellt die Karte des deutschen Auswanderers Heinrich Stefan Langanki dar. Er verkaufte sie nach dem Jahr 1913 in Pjatigork (Kat.9.7).

Mit großem zeitlichen Abstand taucht der Hangmümmler ab dem Jahr 2001 als öffentliches Motiv wieder auf. In diesem Jahr werden gleich fünf Briefmarken von der armenischen Post herausgegeben. Sie wurden von Harytyun Georgos Lock (*1956), einem modernen armenischen Maler, entworfen (Kat. 9.8 und 9.10).