Unter dem Motto „Anpassung und Überleben in schwierigem Gelände“ sind im Katalog und in der Ausstellung zur Ökologie und Biologie des Hangmümmlers alle bislang bekannten und relevanten Fakten zusammengefasst. Eingeleitet wird das Thema durch Informationen zur Geographie und der existierenden wie ausgestorbenen Pflanzen- und Tierwelt des Kaukasus. Danach folgen Informationen über die relevanten anatomischen Grundlagen des Tieres, über Bildquellen, Verbreitungsgebiete und Fortpflanzung, Nahrung, Evolution sowie die Wechselwirkungen des Hangmümmlers mit anderen Organismen. Ganz aktuell und erstmalig wird zum Schluss über das Klonprojekt von Dr. Neimeyer berichtet.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Ausgestopfter Hangmümmler (Capra caucasiana Linnaeus). Historisches Museum Eriwan: 1928 IV 1.2

 

Übersicht zu: Biologie und Ökologie des Hangmümmlers

1. Der Kaukasus

2. Pflanzenwelt im Kaukasus

3 Tierwelt im Kaukasus

4. Ausgestorbene Tiere im Kaukasus

5. Gestalt und Anatomie des Hangmümmlers

5.1  Überlieferte Bilder

5.2  Fotografie und Film

5.3  Original erhaltene Teile des Hangmümmlers

5.4  Skelett und Schädel

5.5  Hörner

6     Fortpflanzung

7     Verbreitungsgebiet des Hangmümmlers

8     Nahrung des Hangmümmlers

9    Wechselwirkungen mit anderen Organismen

10   Evolution des Hangmümmlers

11   Das Klonprojekt von Dr. Robert Neimeyer

Zur Ökologie und  Biologie des Hangmümmlers

1. Der Kaukasus

Unter dem Begriff des Kaukasus finden sich die Ebenen des Nordkaukasus, der Große Kaukasus, die Transkaukasische Senke, der Kleine Kaukasus und das Talysch-Gebirge vereint.

Der Große Kaukasus ist über 1100 Kilometer lang, bis 180 Kilometer breit und vielfach gegliedert. Ganz im Norden liegt die Kette der bewaldeten Schwarzen Berge, südlich davon folgt der Weidekamm mit Höhen zwischen 1200 und1500 Metern, gefolgt vom Felsenkamm mit Höhen bis zu 3629 Metern. Südlich dieser Ketten unterteilt sich das Gebirge in vier Abschnitte: den westlichen Schwarzmeer-Kaukasus, auch Pontischer Kaukasus genannt, den vergletscherten Hochgebirgs-Kaukasus mit den höchsten Gipfeln Elbrus, Schchara und Kasbek (bis 5642 m), in der Mitte das Surami-Gebirge und im Osten den Kaspischen Kaukasus. Die Hauptkette wird durch einen einzigen, ganzjährig befahrbaren Übergang, die Georgische Heerstraße, in zwei Hälften geteilt. Die Taman-Halbinsel und die Abseron-Halbinsel bilden geologische Fortsetzungen von Haupt- oder Nebenketten, die bis ins Meer hineinragen. Rund 100 Kilometer südlich liegt der Kleine Kaukasus auf dem Territorium von Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Er ist kein eigenständiges Gebirge, sondern ein Abschnitt der nordanatolisch-nordiranischen Kettengebirge. Der höchste Berg des Kleinen Kaukasus ist der Aragaz mit 4090 Metern. Aufgrund der verschiedenen Höhenlagen und der Grenzlagen zwischen subtropisch-humiden (feuchten), ariden (trockenen) Steppen- und Wüstenklima sowie gemäßigt-kontinentalen (winterkalten) Klima begegnen sich im Kaukasus sehr viele Klimazonen auf relativ engem Raum.

Man unterscheidet fünf klimatische Grundtypen:

  1. ein panhumides (ganzjährig feuchtes) subtropisches Klima,
  2. ein gemäßigt-feuchtes Klima,
  3. ein gemäßigt-kontinentales semihumides oder semiarides (die Mehrheit des Jahres feuchtes bzw. trockenes) Klima,
  4. ein eher kontinental-trockenes kälteres Klima und
  5. ein kontinentales, eher heißes und sehr arides Klima.

Der Gebirgskamm des Großen Kaukasus ist die Grenze zwischen der gemäßigten und der subtropischen Klimazone, das gemäßigt-kontinentale Klima setzt sich über Ostgeorgien ins Armenische Hochland und in die Osttürkei fort. Die Schneegrenze schwankt im Kaukasus zwischen 3000 und 3800 Höhenmetern.[1]

[1] Aries, Thomas (1912): Reise durch den Kaukasus, Berlin

2. Pflanzenwelt im Kaukasus

Die unterschiedlichen physisch-geographischen und klimatischen Verhältnisse sowie die ausgeprägte Gliederung des Reliefs führen zu einem Reichtum an ökologischen Nischen. Im Kaukasus sind 6350 Blütenpflanzen-Arten heimisch, davon sind 1600 endemisch. Die endemischen Baum- und Straucharten sind in der Regel Tertiärrelikte eines feuchteren und wärmeren Klimas. Siebzehn Gattungen von Gebirgspflanzen sind nur hier vertreten:

  • Doldenblütler (Apiaceae): Agasylis, Chymsidia, Mandenovia, Symphyoloma
  • Korbblütler (Asteraceae): Abowiodoxa, Cladochaeta, Grossheimia, Kemulariella
  • Nelkengewächse (Caryophyllaceae): Charesia, Petrocoma
  • Glocenblumengewächse (Campanulaceae): Gadellia
  • Braunwurzgewächse (Scrophulariaceae): Paederotella
  • Baldriangewächse (Valerianaceae): Pseudobetckea
  • Kreuzblütengewächse (Brassicaceae): Pseudovesicaria, Sobolewskia
  • Raublattgewächse (Boraginaceae): Trigonocaryum
  • Rosengewächse (Rosaceae): Woronowia

Der Riesen-Bärenklau, der in Europa als Neophyt der invasiven Art gilt, stammt aus dem Kaukasus. Er wurde 1890 als Zierpflanze nach Europa gebracht. Weitere bekannte Gartenpflanzen, die ganz oder vorwiegend aus dem West-Kaukasus stammen, sind unter anderen die Großblütige Betonie, die Krim-Lilie und die Krim-Pfingstrose. Die Biodiversitäte des Kaukasus schwindet mit alarmierender Geschwindigkeit. Die Gebirgsregion ist aus Sicht des Naturschutzes eine der gefährdesten der Erde.

3. Tierwelt im Kaukasus

Der Kaukasus beherbergt eine reichhaltige Tierwelt.[1] Zu den großen Säugetieren zählen Marale (eine Unterart des Rothirsches), Wildschweine, Gämsen und zwei endemische Steinbock-Arten. Ebenfalls heimisch sind noch Bär, Wolf, Schakal und Luchs. Extrem selten ist der Kaukasische Leopard (Panthera pardus ciscaucasica), der bereits als ausgestorben galt, aber 2003 wiederentdeckt wurde.

Neben den Steinbock-Arten gibt es noch weitere Säugetiere die weitgehend oder vollständig auf diesen Gebirgskomplex beschränkt sind: Kaukasischer Maulwurf, Kolchis- Spitzmaus, Kaukasus-Spitzmaus, Kaukasische Zwergspitzmaus, Kaukasische Bachspitzmaus, Kaukasus-Maus, Kaukasus-Kleinwühlmaus, Kaukasus-Ziesel, Armenische-, Kasbek-, Westkaukasische -und Nordkaukasische Buschmaus. Die Mehrzahl dieser Arten ist sehr unscheinbar. Abgesehen von den Buschmäusen haben sie alle nahe Verwandte in Europa und Asien von denen sie nur schwer zu unterscheiden sind. Eine ebenfalls kaum je sichtbare endemische Art ist die weitgehend unterirdisch lebende, sehr eigentümliche Prometheus-Maus. Sie ist mit den Schermäusen verwandt, bildet aber eine eigene Gattung. Das recht auffällige Kaukasische Eichhörnchen hat, entgegen seinen Namen, ein wesentlich weiteres Verbreitungsgebiet das auch den größten Teil der Türkei, die Levante und den nördlichen Irak und Iran umfasst[2].

Die beiden endemischen Vogelarten dieses Gebirges sind das Kaukasus-Birkhuhn und das Kaukasus-Königshuhn, wobei letzteres nur in den Hochlagen des Großen Kaukasus vorkommt. Im Kleinen Kaukasus und Talysch-Gebirge ist dagegen das auch noch weiter südlich verbreitete Kaspi-Königshuhn vertreten.

Zu den typischen Gebirgsvogelarten, die in Europa recht weit verbreitet sind, gehören unter anderem Alpendohle, Alpenkrähe, Schneesperling, ringdrossel, Steinrötel, Alpenbraunelle, Alpensegler, Bergpieper und Mauerläufer. Besonders bemerkenswert sind Berggimpel und Riesenrotschwanz, die in den Gebirgen des zentralen und südlichen Asiens vorkommen und im Großen Kaukasus ihr weit entferntes westlichstes Brutvorkommen haben. Weitere Vogelarten des Kaukasus mit recht beschränkten Verbreitungsgebieten sind unter anderem der Wacholderlaubsänger und der Rotstirngirlitz. Zu den großen Greifvöglen dieses Berglandes gehöre-, Gänse-, Schmutz- und Mönchsgeier, Stein-, Schrei-, Zwerg- und Schlangenadler.[3]

[1] Nach: Prenzlinger, Dieter (2016): Säugetiere in Armenien, Rossdorf

[2] Wittkowski, Joachim (1925): Armenian animals. Bull. Darwin Inst. Hi.6; 120

[3] Dörteman, Friederike (2006): Geheimnisse des Kaukasus, Rossdorf

4. Ausgestorbene Tiere im Kaukasus

Der Hangmümmler ist leider nicht das einzige größere Säugetier, das in der Kaukasusregion ausgestorben oder vom Aussterben bedroht ist.[1] Wie so oft spielen die vom Menschen zu verantwortenden Faktoren wie der Verlust von Lebensräumen, die Umweltverschmutzung, der Klimawandel und die Wilderei sowie Krankheiten und Seuchen eine wichtige Rolle. Endgültig verloren sind der Kaukasus-Elch (Alces alces caucasicus), dessen letztes Exemplar im Jahre 1810 geschossen wurde[2], der Hangmümmler (Capra caucasiana) und der im Jahre 1922 ausgerottete Kaspische Tiger (Panthera tigris virgata), während der Bergwisent (Bison bonasus), der Kaukasus-Leopard (Panthera pardus saxicolor) und die Saiga-Antilope (Saiga tatarica) als „gefährdet“, „stark gefährdet“ beziehungsweise „vom Aussterben bedroht“ eingestuft sind.

Mit verschiedenen Methoden wurde und wird versucht, der Gefährdung und dem Aussterben entgegen zu wirken. So konnte der ursprünglich 1927 ausgestorbene Bergwisent durch planmäßige Nachzüchtung Anfang der 1950er-Jahre wieder erfolgreich ausgewildert werden. Der Kaukasus-Leopard, der im Jahre 2004 bis auf 20 bis 25 noch lebende Exemplare reduziert war, wird durch strenge Maßnahmen in seinem Bestand geschützt. Die Saiga-Antilope, welche nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 durch intensive Wilderei und durch eine Seuche in ihrem Bestand stark gefährdet war, hat sich bis heute auf niedrigem Niveau erholt.

In Bezug auf den ausgestorbenen Kaukasus-Elch sind bis dato keine Be-mühungen bekannt, ihn wieder durch Rückzüchtung oder Klonen zum Leben zu erwecken. Anders beim Hangmümmler: Seit dem Jahr 2015 versucht eine Forschergruppe unter Leitung von Dr. Robert Neimeyer am Fraunhofer-Institut in Frankfurt/M durch Klonen oder  „Genome Editing“ das seit gut einem halben Jahrhundert ausgestorbene Tier wieder zum Leben zu erwecken (siehe Kapitel 2.10).[3]

[1] Grandjean, Philippe (2009): Liste der ausgestorbenen Tierarten, Rossdorf, S.74-99

[2] Perdant, Markus und Loster, Juli (2013): Das vergessene Tierreich –  am Rande der Existenz,   Rossdorf, S.154ff

[3] Neimeyer, Robert (2016): Cloning of mammals using the example of the capra caucasiana, Frankfurt/M

5. Gestalt und Anatomie des Hangmümmlers

Der Hangmümmler (Capra caucasiana L.) gehört zur Familie der Horn-träger (Bovidae). Diese wiederum gehören innerhalb der Ordnung Paarhufer (Artiodactyla) zu den Wiederkäuern (Ruminantia). Zur Gattung Capra zählen unter anderem die Wild- und die daraus domestizierte Hausziege sowie die verschiedenen Arten der Steinböcke. Der Hangmümmler ist ein recht zierlich gebautes Tier und mit seinen Extremitäten an steile Bergregionen und eine kletternde Fortbewegung angepasst. Er erreicht eine Kopf-Rumpflänge von 50 bis 65 Zentimetern, der kurze und behaarte Schwanz ist 6 bis 10 Zentimeter lang. Die Körperhöhe von Vorderläufen bis Kopf beträgt zwischen 35 bis 45 Zentimeter, von den Hinterläufen bis zum Rücken 40 bis 50 Zentimeter. Damit ist er deutlich kleiner als die mit ihm verwandte Bezoarziege.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Ausgestopfter Hangmümmler (Capra caucasiana Linnaeus) Historisches Museum Eriwan: 1928 IV 1.2

Deutlichstes Merkmal des Hangmümmlers ist die markant unterschiedliche Beinlänge der Vorder- und Hinterläufe. Der Unterschied kann gut über 10 Zentimeter ausmachen. Dieses Merkmal ist auch bei Rehen und Gemsen bekannt, allerdings in viel geringerem Ausmaß. Es ermöglicht ihnen ein besseres Durchkommen im dichten Wald. In der montanen Stufe des Kaukasus ermöglichen die längeren Hinterbeine dem Hangmümmler eine bessere und vor allem sicherere Fortbewegung in den unebenen, steilen und felsigen Gebieten. Trotz der ungleichen Beinlängen ist der Hangmümmler ohne Probleme in der Lage, sich sowohl auf ebenen Flächen als auch bergab behende zu bewegen. Die unterschiedliche Beinlänge erlaubt ihm je nach Hangwinkel ein einigermaßen waagerechtes Äsen an den Berghängen. Stellt er sich auf die Hinterbeine, erreichte er auch noch höher gelegene Futterquellen. In typischer Haltung steht er ruhig zum Hang und frisst oder er steigt in fast waagerechter Haltung schräg zum Hang nach oben. Zusätzlich können die längeren Hinterbeine in Gefahrenmomenten eine enorme Sprungkraft entwickeln, mit der sich ein Hangmümmler auch an den unwirtlichsten Stellen der Berge schnell in Sicherheit bringen kann.[1]

Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass schon ein früher Vorfahre des Hangmümmlers, der Diacodexis, deutlich unterschiedliche Beinlängen aufweist.

Das Gewicht der Tiere variiert zwischen 15 und 25 Kilogramm, wobei die Männchen deutlich schwerer werden als die Weibchen. Das dichte und kurzhaarige Fell des Hangmümmlers ist von braungrauer Farbe. Im Zuge des jahreszeitlichen Fellwechsels kommt es zu einer leichten Veränderung von Fell-Länge und -Färbung. Das Winterfell ist etwas länger und dichter sowie heller, hält in der kalten Jahreszeit also besser warm und der Hangmümmler kann im Schnee nicht so leicht entdeckt werden. Auffällig ist der kleine Bart, bei den Männchen ausgeprägter als bei den Weibchen. Beide Geschlechter tragen Hörner, weisen aber darin einen Geschlechtsdimorphismus auf, da die Hörner der Weibchen etwas kürzer als die der Männchen sind. Hängmümmler sind meist dämmerungsaktiv, gehen also im Allgemeinen am frühen Morgen oder am späten Nachmittag auf Nahrungssuche; in kühleren Regionen oder im Winter führen sie eher eine tagaktive Lebensweise. Die Weibchen leben mit ihrem Nachwuchs meist in Gruppen, die Männchen sind während des größten Teils des Jahres einzelgängerisch oder bildeten Junggesellentrupps.  Zur Paarungszeit schließen sich die Böcke den Weibchengruppen an und versuchen, durch kleinere Kämpfe und Rangeleien untereinander das Paarungsvorrecht zu erringen.

In Anpassung an seinen Lebensraum zeichnen den Hangmümmer noch zwei weitere Merkmale aus, die sein Überleben sichern. Zum einen besitzt der Hangmümmler wie der Westkaukasische Tur viereckige Pupillen, die sich waagerecht verengen. Diese Pupillenform ermöglicht ihm einen besseren Rundumblick, auch wenn er den Kopf völlig ruhig hält. Diese Unbeweglichkeit macht ihn für andere Tiere schwer erkennbar, während er seine verschiedenen Fressfeinde schneller entdecken kann[2]. Zum anderen ist der Hangmümmler mit einem inneren Wegmesser ausgestattet, mit dem er sich an zurückgelegte Distanzen erinnert. Der genaue Mechanismus ist leider nicht bekannt, es wird aber vermutet, dass die einfallenden Sonnenstrahlen Orientierungspunkte für die Himmelsrichtungen bieten. Das kombiniert der Hangmümmler dann mit den Schritten, die er innerlich zählt und die Werte auf eine horizontale Ebene automatisch umrechnet. Das heißt, dass sich der Hangmümmler praktisch nie verlaufen kann. Wie eine Ameise in der gleich aussehenden Wüste findet er  immer wieder zu seinen Revierpunkten zurück. Für den Hangmümmler ist diese Orientierung in den verschneiten Landschaften während der Winterzeit von Vorteil.

[1] Avril, P. (1936): La chévre caucasienne. C.r. Soc. Boil. Rh. 218; 28.

[2] Wittkowski, Joachim (1923): Systematic studies on the goats in Armenia. Am. Nat. F. 374; 1498

5.1 Überlieferte Bilder zur Gestalt des Hangmümmlers

Die Überlieferung der Gestalt des Hangmümmlers hat bis in das 19. Jahrhundert hinein neben der kleinen Körpergröße im wesentlichen zwei Charakteristika hervorgehoben: zum einen die unterschiedliche Beinlänge von Vorder- und Hinterläufen, zum anderen die kleinen Hörner auf dem Kopf. Erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden vereinzelt anatomische Studien am und Rekonstruktionen nach vermutetem Wissen um den Hangmümmler vorgenommen, wobei sich die Beschaffung von originalem Material immer als Problem erwiesen hat. Denn bis in den Westen Europas ist der Hangmümmler nie lebend vorgedrungen. Er lässt sich auch im Gegensatz zur Bezoarziege nicht domestizieren. Zudem ist der Handel mit Fellen und Hörnern des Tieres durch den Glauben der Menschen im Kaukasus stark eingeschränkt, gilt der Hangmümmler doch seit Menschengedenken als schützenswert. Von daher sind originale Vorlagen, an denen das historisch überlieferte Bild korrigiert werden kann, äußerst selten. Über Jahrhunderte stellt die Abbildung bei Conrad Gessner aus dem Jahr 1565 die dem Tier am nächsten kommende dar. Das Bild bei Gessner ist entweder nach der Natur von einem Exemplar gezeichnet, das in Gefangenschaft vom Kaukasus weit in den Westen verschleppt wurde, oder beruht auf spätantiken Vorlagen in Art des Berner Physiologus. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, mit der Ausgabe in Brehms Tierlieben von 1886, wird ein neues und realistischeres Bild des Hangmümmlers veröffentlicht. Die Vorlage stammt zum einen aus der Beschreibung von Robert Schoppmann, zum anderen waren Alfred Brehm die Ergebnisse der „Forschungsgruppe Gelsenkirchen“ unter Dr. Schroeter bekannt. Dieser steht zu seiner Zeit mit der Naturhistorischen Gesellschaft in Berlin in engem Kontakt. Dass es dabei auch um den Hangmümmler geht, wissen wir aus dem erhaltenen Briefwechsel. Zudem werden die Ergebnisse der Forschungsgruppe im Jahre 1872 von Grünewald und Medikus herausgegeben und dienen ebenfalls Alfred Brehm als Basis seines Artikels im Brehms Tierleben.

5.2 Fotografie und Film

Mit dem Aufkommen und der Verbreitung von Fotografie und Film ist das Aussehen des Hangmümmlers keinen Interpretationen mehr ausgeliefert. Die zoologischen Forschungsanstalten bedienen sich beider Medien, um ihre Sammlungen zu vervollständigen. Im Fall des Hangmümmlers kursieren allerdings nur wenige Aufnahmen. In den Höhen des Kaukasus war das Fotografieren Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch nicht in Mode gekommen. Für Westeuropa sind die Bilder, welche der Moskauer Zoologische Garten dem Berliner Naturhistorischen Museum im Jahre 1926 zur Verfügung stellte, von besonderer Bedeutung. Zwei Jahre zuvor wird die erste bekannte Farbfotografie von zwei Hangmümmlern aufgenommen, während Konstantin Novov 1929 eher zufällig die einzige kurze Filmaufnahme eines Hangmümmlers in seinem Film „Der Kaukasus – Menschen, Tiere, Pflanzen“ gelingt.

5.3 Original erhaltene Teile des Hangmümmlers

Die erste Spur eines originalen Hangmümmlers in Westeuropa finden wir im Jahre 1752. Den Hinweis auf ein wohl ausgestopftes Exemplar verdanken wir dem berühmten Carl von Linné, der das Tier im Inventar der Sammlung des Grafen Tessiani in Schweden erwähnt und als erster beschreibt. Leider ist der Verbleib dieses Exemplars in den neuen Inventaren der Sammlung ab 1922ff nicht dokumentiert und das Exponat muss daher als verschollen gelten. Teile eines weiteren Skeletts befinden sich nachweislich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert in der königlich-bayrischen Sammlung in München. Diese Knochen sind seit dem Ende des zweiten Weltkriegs verschwunden. Damit gibt heute nur noch das komplett erhaltene Exemplar aus dem Historischen Museums in Eriwan einen originären Anblick des Hangmümmlers. Es stammt aus der Zeit um 1928 [1].

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Ausgestopfter Hangmümmler (Capra caucasiana Linnaeus) Historisches Museum Eriwan: 1928 IV 1.2

Aus Eriwan stammen auch die bestens erhaltenen Knochen und der Schädel eines Jungtieres. Sie gelangten im Jahr 1958 in die dortige Sammlung.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Skelettteile und Schädel eines Hangmümmlers (Jungtier) (Capra caucasiana L.) Historisches Museum Eriwan: 1958 IV 18.4

Kleinere Knochen des Hangmümmlers finden sich dazu noch in den Naturhistorischen Museen von Istanbul, Mainz und Paris.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Schulterblatt eines Hangmümmlers (Capra caucasiana L.) Istanbul, Topkapi-Museum, Naturhistorische Sammlungen: XV 15-488 / 8

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein besonderes Stück besitzt das Tierkunde Museum in Dresden. Das Nasspräparat eines Hangmümmler-Herzens kam im Jahr 1909 in die Sammlung und stellt bislang die einzig erhaltene größere Gewebeprobe eines Hangmümmlers dar.

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Herz eines Hangmümmlers (Capra caucasiana L.) Bei diesem Objekt handelt es sich um das besonders große Herz eines Hangmümmler-Bocks Dresden, Museum für Tierkunde: 1909/VII 18-437

 

[1] Ativ, Pallia (2009): The biological collection in the Historical Museum of Armenia, Erevan, S.197-204

5.4 Skelett und Schädel

Die umfassendsten Arbeiten über die Anatomie des Hangmümmlers stammen aus der Zeit zwischen 1887 und 1928. Infolge des ersten Weltkrieges und des russischen Bürgerkrieges nach der Revolution 1917 konnten die Forschungsarbeiten aber nicht weitergeführt werden. Erst in den späten 1920igerJahren wurden weitere Erkenntnisse zusammengetragen. Im Bereich des Skelettbaus des Hangmümmlers ist die Arbeit von Schubert Knoe in seinen „Kaukasischen Thierstudien, München 1887“ hervorzuheben.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Er hat in mühsamer Kleinarbeit und in vergleichenden Studien das ganze Skelett sowie insbesondere Schädelbau und Füße analysiert und rekonstruiert. Seine Arbeit ist umso bedeutender, als ihm nur Teile eines mittlerweile verschollenen Skeletts aus der bayrisch- königlichen Naturkundesammlung in München zur Verfügung standen. In seiner Rekonstruktion ist beispielsweise deutlich die unterschiedliche Länge von Vorder- und Hinterläufen des Hangmümmlers zu erkennen.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler  Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Im Rahmen seiner vergleichenden Anatomiestudien hat er zum ersten Mal überhaupt ein Skelett des Hangmümmlers der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Bahnbrechend sind auch seine Untersuchungen der Füße des Tieres. Seine Kollegen B. Altum und H. Landois unterstützten ihn dabei und nahmen in ihrem Hauptwerk der „Vergleichenden Anatomie“ im gleichen Jahr Teile der Hangmümmlerforschung in ihr Werk mit auf.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Aufgrund der präzisen Wiedergabe des Hangmümmler-Schädels bei Schubert Knoe können wir davon ausgehen, dass zumindest Teile eines solchen in der Münchener Sammlung vorgelagen haben. Es gelingt ihm eindrucksvoll, uns eine klare Vorstellung der einzelnen Schädelknochen zu vermitteln. Einzig die knöcherne Darstellung des Hornes (Cornu) wirft Fragezeichen auf, denn die Hörner eines Tieres sind normalerweise nicht Teil seines Skeletts. Ob Schubert Knoe an dem Schädel des Tieres knöcherne Teile identifizieren konnte, ist nicht zu vermuten. Der uns vorliegenden Schädel aus Eriwan lässt auf einen Irrtum des Forschers oder des Illustrators schließen.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Das bleibende Gebiss des Hangmümmlers hat 26 Zähne. In Unter- und Oberkiefer befinden sich keine Schneidezähne. Der Eckzahn (Caninus, C) ist bei ihm nur im Unterkiefer vorhanden. In jeder Kieferhälfte gibt es drei vordere Backenzähne (Prämolaren, P), wobei phylogenetisch gesehen der erste fehlt und daher mit P2 zu zählen begonnen wird, sowie drei hintere Backenzähne (Molaren, M)[1].

[1] Susenburger, Tanja (1926): Einführung in die vergleichende Anatomie der Huftiere, München, S. 78-84

5.5 Hörner des Hangmümmlers

Das Standartwerk von Friedrich Klausberg über Hörner und Geweihe aus dem Jahr 1897gilt bis heute als einzigartige Zusammenstellung und erlaubt die Ansicht, Einordnung und Beschreibung von fast allen horn- und geweihtragenden Tieren. Von daher fehlt auch nicht die Wiedergabe der Hörner des Hangmümmlers. Sie stehen vergleichend neben Bezoar- und Hausziege.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Die Beschreibung von Klausberg, die im Übrigen mit den noch vorhandenen originalen Hörnern des Hangmümmlers übereinstimmt, folgt ausführlich den von ihm entwickelten Kriterien. Demnach sind die Hörner von brauner bis braungrauer Farbe, innen nicht hohl (solida), beständig (perennia), ohne Enden und Nebenäste (simplicia), an der Spitze stumpf (obtusa), in ihrem Umriss platt (plano) und mit ebener Oberfläche (laevia), auf der sich feine ringförmigen Furchen (sulcata) finden lassen. Von ihrem Stand her stehen sie dicht beieinander (approximata) und sind ihrer Gestalt nach bogenförmig gekrümmt (arcuata). Sie sind zudem rückwärts liegend (reclinata) und folgen mit ihrer Krümmung der Kopfform, was als eher ungewöhnlich angesehen werden kann. Große, mächtige Hörner dienen im Allgemeinen zum Konkurrenzkampf, meist um die Gunst der Weibchen. Die kleinen Hörner des Hangmümmlers sind dazu wenig geeignet, was aber nicht heißt, dass keine Kämpfe stattfinden. Auch andere Hornträger fühlen sich von ihm nicht provoziert. Der Hangmümmler vermeidet dadurch kräftezehrende oder gefährliche Auseinandersetzungen, allerdings um den Preis, dass er vielfach weniger ergiebige Ressourcen nutzen muss. Ein weiterer Vorteil der kurzen Hörner ist, dass Hangmümmler in der Gebirgslandschaft weniger auffallen als Arten mit mächtigen Hörnern oder Geweihen. Auch die braungraue Fellfarbe trägt dazu bei, dass die Tiere mit ihrer Umgebung nahezu „verschmelzen“. Hangmümmler leben also gemäß der Maxime, nicht auffallen und daher in Ruhe gelassen werden, eine Strategie, die insbesondere dem Schutz vor Fressfeinden dient. Die Hörner des Hangmümmlers wachsen nach der Geburt sehr schnell, sodass schon kleine Jungtiere über welche verfügten. Bei ausgewachsenen Tieren werden sie zwischen 5 und 9 cm lang. Hangmümmler benutzen die Hörner, um auf dem Boden durch Schaben an verdeckte Nahrungsquellen zu gelangen, oder um bei den Brunftkämpfen den Gegner wegzudrücken. Die Hörner der Böcke sind größer als die der Weibchen.

6 Fortpflanzung

Zur Brunftzeit machen die Weibchen durch ihren Geruch auf sich aufmerksam. Dadurch werden nicht nur die Böcke der eigenen Gruppe, sondern auch andere, zum Teil weit entfernte Tiere auf sie aufmerksam.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Farbfotographie von Hangmümmlern, um 1924 Ein männlicher und ein weiblicher Hangmümmer während der Brunftzeit im Frühjahr nach der Schneeschmelze. Die Aufnahme wurde in der Gegend um den „Sultan Wasserfall“ aufgenommen. Sie ist eine der letzten Fotographien des Hangmümmlers. Sammlung der Naturhistorischen Gesellschaft in Eriwan, Coll. F/C 1968.368

Interessieren sich mehrere Böcke für ein Weibchen, kommt es zu Kämpfen zwischen ihnen. Dabei versuchen sie, sich so mit den Hörnern gegenseitig wegzudrücken, bis der Gegner mit den kurzen Beinen hangabwärts zu stehen kommt. Diese Position ist für einen Hangmümmler so ungünstig, dass er seine Unterlegenheit erkennt und sich daraufhin zurückzieht. Hat ein Hangmümmler-Männchen nach den Kämpfen endlich ein Weibchen erobert, so führt er eine Art Tanz auf, um das Weibchen in Paarungsstimmung zu bringen. Wesentliche Elemente dabei sind hohe Sprünge mit den kräftigen Hinterläufen und imponierendes Klettergehabe an steilen Felsbrocken. Im Verlauf der Balz gelingt einigen Tieren sogar eine Art von Purzelbaum bergabwärts. Von diesem Verhalten berichtet erstmals Robert Schoppmann im ausgehenden 18. Jahrhundert. Er vermutet, dass dieser Überschlag auf die unterschiedliche Beinlänge der Hangmümmler zurückzuführen ist. Im Eifer der Balz mit hohen Sprüngen, muss das Männchen, hangabwärts stehend, sich mit seinen langen Hinterläufen so kräftig abgestoßen haben, dass es sich überschlagen hat. Dieses „Unglück“ scheint auf die Weibchen so stimulierend gewirkt zu haben, dass manche Böcke es fortan in ihr Brunftrepertoire integriert haben[1]. Der Bock stimuliert das Weibchen zusätzlich durch den für sie betörenden Duft seines Urins. Wie der Steinbock steht er dabei mit dem Kopf nach unten zwischen die Beine geneigt, um seinen kurzen Bart mit dem Urinstrahl zu treffen. Diese Eigenheit wird auch „Kögeln“ [2] genannt. Der Name geht auf den pfälzischen Verhaltens- und Naturforscher Friedrich Kögel zurück. [3] Nach einer Tragzeit von nur 5 Monaten wirft ein Hangmümmler-Weibchen in der Regel ein Junges. Es folgt sofort der Mutter und wird bis zu einem ganzen Jahr lang gesäugt. Das trägt zu einer intensiven Bindung der Tiere bei, die sich über das ganze Leben erstrecken kann.

[1] Stumpe, Julia (2016): Das Balzverhalten des kaukasischen Hangmümmlers, Bingen

[2] Kögel, Friedrich (1992): Markierungsverhalten der Säugetiere, Landau

[3] Kögel, Friedrich und Ludwig, Mario (2009): Tierführer Translunarien, München

7 Verbreitungsgebiet des Hangmümmlers

Angaben über das Verbreitungsgebiet des Hangmümmlers waren auf-grund der geographischen Lage und der vor der Industrialisierung der Sowjetunion zum Teil geringen Besiedlung der in Frage kommenden Gebiete schwer zu bekommen. Wir dürfen aber vermuten, dass der Hangmümmler ursprünglich in allen höhergelegenen Regionen des kaukasischen Gebirgsmassivs (Großer und Kleiner Kaukasus) vorgekommen ist. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Verbreitungsgebiet beginnt nach Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Karte von J. Grässel aus dem Jahr 1865. Auf ihr liegt das vermutete Verbreitungsgebiet in einem breiten Streifen rechts und links der Höhenlagen des grossen Kaukasus. Die nördliche Grenze wird dabei von Pjatigorsk, die südliche von der Gegend vor Tiflis kurz vor dem kleinen Kaukasus markiert. Eine Population, die sich weiter südlich auf armenischen Gebiet befunden haben muss, ist auf dieser Karte nicht erwähnt.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Verbreitung des Hangmümmlers auf der Karte von J. Grässl, um 1865 Der Kaukasische Isthmus Das vermutete Verbreitungsgebiet des Hangmümmlers ist in der Karte rot eingezeichnet. Es sind die hohen und abgelegenen Gebiete des Großen Kaukasus, in denen sich das Tier aufhielt oder zurückziehen musste. Stahlstichkarte, entworfen und gezeichnet von J. Grässl, um 1865 Naturhistorische Sammlung Freiburg/Br. 1895 IV 13.247

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kommen die russischen Forscher, die auf ihrer Karte von 1870 die in Frage kommenden Gebiete eingezeichnet haben. Hier sind allerdings auch die weiter südlich gelegenen Vorkommen des Tieres in Richtung Armenien vermerkt.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Russlandkarte von 1870 Karte der russischen naturhistorischen Gesellschaft in Moskau. Auf ihr sind die Gegenden verzeichnet, in denen Berichten nach Hangmümmler gesichtet wurden. Die Karte gehört zu den frühesten Belegen der russischen Bemühungen zur Erforschung des Hangmümmlers. Moskau, Bibliothek der naturhistor. Gesellschaft, UMC 46/7

In dem im Jahr 1916 erschienenen „Kleinen Handatlas von Velhagen und Klasing“ sieht man, wie sich das Gebiet des Hangmümmlers im Lauf von fast fünfzig Jahren stark reduziert hat. Auch ist sein Verbreitungsgebiet nicht mehr zusammenhängend, sondern zerfällt in drei bis vier Enklaven. Aus der Karte kann auch auf die Verdrängung der Population aus den südlich gelegenen Regionen im Kleinen Kaukasus geschlossen werden[1].

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Karte zum Verbreitungsgebiet des Hangmümmlers im 20. Jahrhundert, Handatlas 1916. Hierauf sind die Gegenden, an denen in den letzten Jahren ein Hangmümmler gesehen wurde, verzeichnet. Damit ist das ungefähre Verbreitungsgebiet der Tiere in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts umrissen. Kleiner Handatlas Velhagen und Klasing, Bielefeld und Leipzig 1916 Naturhistorische Sammlung Freiburg/Br. 1916 V 3.1119

Bei der geschilderten Entwicklung war es nur folgerichtig, dass die Forscher in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts versuchten, die letzten Sichtungen des Hangmümmlers zu dokumentieren und ihre Bemühungen international zu koordinieren. Die wahrscheinlich letzte dokumentierte Sichtung stammt dann aus dem zweiten Weltkrieg. Ein Brief von Jörg Salzer aus dem Jahr 1942 ist der letzte Hinweis auf den Hangmümmler, den wir derzeit besitzen. Demnach hat sich mindestens ein Exemplar im Gebiet südlich von Pjatigorsk aufgehalten. Aus dieser Gegend stammt übrigens auch die Farbfotografie von 1924.

Nach der geographischen Verbreitung des Hangmümmlers soll noch auf das Höhenprofil seines Lebensraumes eingegangen werden. Unserer Quellenlage zufolge können wir davon ausgehen, dass sich der Hangmümmler, abhängig von den Jahreszeiten, in Höhen von ca. 800 bis zu 2500 Metern aufhält. Damit ist er in der Lage mehreren Klimazonen – vom unteren Bereich der Misch- und Laubwaldstufe bis hin zur Mitte der alpinen Stufe – zu besiedeln, die zwischen feuchtem und trockenem als auch warmen und kaltem Klima schwanken. Es ist folgerichtig anzunehmen, dass sich der Hangmümmler sowohl in Gegenden mit Laub-, Misch- und Nadelbäumen als auch in felsigen und kargen Gegenden, in denen die Pflanzen nur noch bis zu einem Meter groß werden, wohlfühlt. Aufgrund dieser hohen Anpassungsfähigkeit des Tieres ist sein Toleranzbereich im Vergleich zu anderen Arten, die im Hochgebirge vorkommen, als euryök zu bezeichnen (dieser Begriff bezeichnet die Fähigkeit biologischer Arten, einen breiten Schwankungsbereich eines oder mehrerer Umweltfaktoren ertragen zu können).

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

Höhenprofil des Lebensraumes des Hangmümmlers

Im Winter zieht sich der Hangmümmler in tiefer gelegenes Gebiet zurück. Hier ist die Nahrung reichhaltiger vorhanden als in den hochgelegenen Regionen. Auch bieten die Bäume einen gewissen Schutz gegen Kälte und Schnee – ebenso wie sein dichteres Winterfell. Auch viele Böcke schließen sich jetzt den Gruppen aus Weibchen und Jungtieren an. Bei ganz strenger Witterung rücken die Tiere einer Herde näher zusammen, um sich gegenseitig Wärme zu spenden. Der Hängmümmler gilt als ortstreu und wechselt mit Ausnahme der Brunftzeit nur ungern sein Territorium.

[1] Wittkowski, Joachim (1929): Capra caucasiana, lost and found. La nature (P) 77; 311

8. Nahrung des Hangmümmlers

Wie schon die Anatomie des Hangmümmlers zeigt, ist er ein typischer Pflanzenfresser (Kat. 2.4). Dabei ist er bei der Auswahl seiner Nahrung in der Regel wenig wählerisch. Sein Speisezettel umfasst alle Arten von Gräsern, Beeren und andere Früchte, Moose, die Rinde junger Bäume sowie die Triebe von Sträuchern und Bäumen. Besonders gut scheinen ihm aber die bunten Blumen auf den bis zu 2250 Meter hoch gelegenen Wiesen zu schmecken, etwa Glockenblumen (Campanula), die Schwefelgelbe Schachblume (Fritillaria collina) oder die Grünliche Waldhyazinthe (Platanthera chlorantha).

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Pflanzennahrung des Hangmümmlers (Capra caucasiana L.) Historisches Museum Eriwan: 2013 IV 7.2

In der Winterzeit steigen die Tiere in die tiefer gelegenen Regionen ab und können sich dabei auch abgelegenen Gehöften nähern. Von dort werden sie von der einheimischen Bevölkerung mit dem Lärm kleiner Glocken vertrieben.

Einfluss auf das Nahrungsangebot haben in den späten 1920er-Jahren die Folgen der Industrialisierung der jungen Sowjetunion ab ihrem ersten 5-Jahresplan von 1928. An erster Stelle ist hier der Bergbau in Gebieten zu nennen, in denen sich auch der Hangmümmler aufhält. Dazu werden industrielle Abfälle in großem Maßstab neben den Abraumhalden entsorgt. In den tiefer gelegenen winterlichen Rückzugsgebieten des Hangmümmlers verknappte sich somit seine Nahrungsgrundlage an manchen Orten dramatisch. Der negative Einfluss auf die Hangmümmler-Population ließ nicht lange auf sich warten.

9. Wechselwirkungen mit anderen Organismen 

Zu den natürlichen Feinden des Hangmümmlers gehören Bär, Wolf und Luchs sowie der Kaukasische Leopard, aber auch die großen Adler der Region wie der Stein-, Schrei-, Zwert- und Schlangenadler. Bei Angriffen dieser Feinde befreit den Hangmümmler die Sprungkraft der Hinterläufe sicherlich so manches Mal aus schwierigen Situationen. Muss er flüchten, dann bevorzugt er in der Regel den Fluchtweg bergaufwärts. Auf dieser Route kann er für kurze Zeit eine beachtliche Geschwindigkeit erreichen. Ist nicht mehr an Flucht zu denken, versteckt sich der Hangmümmler hinter Felsvorsprüngen und wartet ab, bis die Gefahr vorüber ist.

Eine Symbiose geht der Hangmümmler mit dem nur im Kaukaus vorkommenden (endemischen) Kaukasusgimpel (Carpodacus caucasii) ein, einem Verwandten des Berggimpels (Carpodacus rubicilla). Im Gegensatz zu anderen Gimpeln hat der Kaukasusgimpel wie die meisten Insektenfresser einen spitzen Schnabel, was ihn befähigt, Parasiten aus dem Fell des Hangmümmlers zu picken. Diese „Partnerschaft“ hat für beide Seiten Vorteile: Der Kaukasusgimpel hat sich eine gut erreichbare Nahrungsquelle erschlossen und der Hangmümmler bleibt durch die anhaltende Fellpflege insbesondere in den Sommermonaten fast vollständig parasitenfrei. Ob es dem Kaukasusgimpel gelungen ist, sich nach dem Aussterben der Hangmümmler andere Nahrungsquellen zu erschließen oder ob diese Art in der Folge auch ausgestorben ist, konnte noch nicht abschließend geklärt werden. Interessant ist auch die „Zusammenarbeit“ (Mutualismus) des Hangmümmlers mit der „Zahnlosen Schachschlange“ (Latruncularius edentatus). Die Zahnlose Schachschlange führt den Hangmümmler zu den oft versteckt liegenden Bergwiesen, auf denen die zarten Blüten der Schwefelgelben Schachblume (Fritillaria collina) wachsen. Sie zählen zu seinen besonders beliebten Leckerbissen. Die ansonsten recht harmlose Schlange wiederum profitiert von dem beim Äsen des Hangmümmlers aufgeschreckten kleineren Tieren, die sie dadurch leicht fangen kann. Der Hangmümmler ist ein sogenannter K-Stratege, d.h. er hat wenige Nachkommen, um die er sich aber intensiv kümmert. Er lebt auch lange Zeiten in nach Geschlechtern getrennten Herden. Insbesondere mit der Bezoarziege steht er in Konkurrenz, ähneln sich doch die ökologischen Nischen beider Tiere. Dabei ist die Bezoarziege der dominantere Konkurrent, der den Hangmümmler in Richtung Pessimum verdrängt. Die Bezoarziege ist variabler in ihrer Nahrung und auch vom Körperbau wehrhafter als der Hangmümmler.

10. Evolution des Hangmümmlers

Der Hangmümmler ist ein Säugetier aus der Gruppe der Cetartiodactyla. Er gehört zu den Paarhufern. In dieselbe Gruppe gehören erstaunlicherweise aber auch die Wale und Delphine, die sich aus Landlebewesen zu Wasserlebewesen entwickelt haben. Die letzten gemeinsamen Vorfahren stammen aus dem Eozän (vor 56 Millionen bis 33.9 Millionen Jahren).

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Die Cetartiodactyla sind ein Taxonn (eine systematische Gruppe) der Säugetiere, das, das sich aus zwei äußerlich stark unterschiedlichen Gruppen zusammensetzt, den Paarhufern  (Artiodactyla) und den Walen (Cetacea). Dass diese beiden Gruppen eine monophyletische Gruppe bilden (von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen), wird durch molekulargenetische Untersuchungen bestätigt und wird auch morphologisch durch in jüngerer Zeit gemachte Fossilienfunde unterstützt. Wichtigste Synapomorphie (gemeinsam abgeleitetes Merkmal) der Cetartiodactyla ist der spezielle Bau des Sprungbeins, das sowohl am oberen als auch am unteren Ende eine Gelenkrolle aufweist. Ansonsten haben Wale und Paarhufer in ihrer Evolution gänzlich unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Während die Wale die wohl am besten an das Wasser angepassten Meeressäugern wurden, entwickelten sich die Paarhufer zu effizienten Läufern auf dem Land, die sich dank ausgefeilter Verdauungssysteme (vor allem die Wiederkäuer) hervorragend an eine pflanzliche Ernährung anpassen.

Die ältesten Fossilien der Cetartiodactyla stammen aus dem frühen Eozän (vor rund 55 Millionen Jahren). Da diese Funde nahezu gleichzeitig in Europa, Asien und Nordamerika auftauchten, ist es sehr schwierig, den Entstehungsort der Paarhufer genauer zu bestimmen. Diese frühen Formen werden in der Gruppe der Dichobunidae (oder Dichobunoidea) zusammengefasst – ihr bekanntester und am besten erhaltener Vertreter ist Diacodexis [1]. Es handelt sich um kleine (anfangs nur etwa hasengroße) Tiere mit schlankem Körperbau, langen dünnen Beinen und einem langen Schwanz. Die Hinterbeine waren deutlich länger als die Vorderbeine, die typische Zehenstruktur noch nicht voll entwickelt und die Zähne niederkronig und einfach gebaut. [2]

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Diacodexis (Rekonstruktion und versteinertes Skelett). Quelle: Wikipedia

Schon im frühen bis mittleren Eozän kam es zur Radiation und zur Entstehung zahlreicher Stammeslinien. Die ältesten Wale sind seit 53 Millionen Jahren belegt, auch Vorfahren der Unterordnungen der Paarhufer (Schweineartige, Schwielensohler, Wiederkäuer) entstanden im Eozän. Innerhalb der Ziegen ist der Hangmümmler eng verwandt mit der Bezoarziege (Wildziege, Capra aegagrus). Man kann den Hangmümmler wie folgt in die Systematik der Ziegen einordnen:

 

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Die Art des Hangmümmlers hat sich sympatrisch herausgebildet, d.h. die  Entstehung seiner Art erfolgt durch unterschiedliche Einnischung. Seine nächste Verwandte, die Bezoarziege, teilt sich den gleichen Lebensraum mit ihm. Dies ist möglich, da der Hangmümmler zarte Kräuter, Blumen und Pflanzen bevorzugt und nicht die gleiche Nahrung beansprucht wie die Bezoarziege. Der Körperbau des Hangmümmlers wie auch seine Hörner sind deutlich kleiner als bei anderen Ziegen. Das kann unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass der Hangmümmler in Brunftkämpfen weniger harte Auseinandersetzungen auszutragen pflegt und somit keinem evolutionären Druck nach großem Körperbau und langen Hörnern unterliegt.

[1] Ludwig, Walter (1932): Die Selektionstheorie. In: Die Evolution der Organismen. Hrsg von G.  Heberer, Stuttgart.

[2] Eppler, Gerold (1926): La descendance des chèvres, Lyon

11. Das Klonprojekt von Dr. Robert Neimeyer

Nachdem das Klonen 1996 mit dem Schaf Dolly zum ersten Mal erfolgreich angewandt wurde und bis heute bei verschiedenen Tieren wie u.a. der Maus, dem Rind und 1998 auch bei Ziegen erfolgreich ist, setzt die Wissenschaft seit dem Jahr 2015 diese Methode ein, um den Hangmümmler in naher Zukunft wieder auferstehen zu lassen. Das deutsch-armenische Projekt ist am Fraunhofer-Institut in Frankfurt/M angesiedelt und steht unter der Leitung von Dr. Robert Neimeyer.[1] Beim Klonen soll ein noch erhaltener Zellkern des Hangmümmlers in die Eizelle eines verwandten Muttertieres zum Austragen eingepflanzt werden. Mit dem Herzpräparat aus dem Dresdner Naturkundemuseum (Kat. 2.5) sind für diesen Versuch, so hoffen die Wissenschaftler, noch ausreichend Gewebeproben vorhanden. Dieser Weg wurde im Jahr 2003 schon einmal für den ausgestorbenen Pyrenäensteinbock fast erfolgreich eingeschlagen. Vorbild für das Frankfurter Projekt mit dem Hangmümmler ist die Arbeit an der Akademie der Wissenschaften in Jakutsk. Dort beschäftigt man sich seit einigen Jahren damit, das Mammut, dessen letzte Vertreter erst vor rund 4000 Jahren auf der nordsibirischen Wrangel-Insel ausstarben, wieder zum Leben zu erwecken. Dafür sammeln sie die Kadaver, die immer wieder aus dem auftauenden Boden der russischen Permafrost-Regionen hervorgeholt werden. Ihre Hoffnungen knüpfen sie besonders an die Entdeckung von „Butterblume“, ein auffallend gut erhaltenes Mammutweibchen, das sie 2013 auf der sibirischen Novosibirsk-Halbinsel mühsam ausgruben. In der Geschichte der Paläontologie ist „Butterblume“ ein Unikum, weil es rotes Muskelfleisch aufweist und nicht gefrorenes Blut in seinen Adern hat. Wenn die Forscher im Blut des Tieres tatsächlich noch eine intakte Zelle entdecken könnten, dann wären die Chancen für ein erfolgreiches Klon-Experiment groß. Mit Hilfe südkoreanischer Genforscher sucht das Institut seitdem nach einem intakten Zellkern in den roten Blutzellen des Fleisches. Bislang vergeblich. Der Zellkern könnte in die Eizelle eines Elefantenweibchens eingebracht werden. Und das könnte das Mammutbaby austragen. Gleichzeitig versucht man sich aber auch am sogenannten „Genome Editing“, bei dem das Erbgut einer eng verwandten Art – hier die Bezoarziege – Stück für Stück an die DNA des ausgestorbenen Tieres angeglichen wird. So sollen dann über Generationen Tiere entstehen, die sich dem ausgestorbenen Hangmümmler immer weiter annähern. Bis heute ist noch nicht klar, welcher Weg am schnellsten zum Erfolg führen wird. Hingegen musste die Hoffnung auf eine Rückzüchtung, welche das Forscherteam am Anfang favorisiert hat, mittlerweile aufgegeben werden, da man vom Hangmümmler auch in den abgelegenen Regionen des Kaukasus keine domestizierten Formen bei der dortigen indigenen Bevölkerung entdecken konnte.

Claus Maywald Der kaukasische Hangmümmler

[1] Neimeyer, Robert (2016): Cloning of mammals using the example of the capra caucasiana, Frankfurt/M